Impfstoffe, Medikamente, Krisenmanagement: Prof. Dr. Günther Wess im Erlensee Aktuell-Interview zur aktuellen Corona-Forschung

(ms/ea) – Prof. Dr. Günther Wess aus Erlensee hat 23 Jahre neue Arzneimittel erforscht und entwickelt und 12 Jahre das Helmholtz Zentrum in München als CEO wissenschaftlich geleitet. Er kennt die Öffentliche Forschung und die Industrieforschung. Außerdem hat er an zwei großen Corona-Studien mitgearbeitet.

Vor dem Hintergrund der angestiegenen Zahlen und der Angst vor einem erneuten Lockdown: Wann gibt es endlich einen Impfstoff?

Derzeit laufen weltweit mehrere große klinische Studien mit verschiedenen Impfstoffkandidaten an vielen Tausend Freiwilligen. Das sind sogenannte Phase-3-Studien, deren Ergebnisse Aussagen zur Wirksamkeit der jeweiligen Impfstoffkandidaten erlauben. Mit Ergebnissen der ersten Studien kann in den nächsten Wochen und Monaten gerechnet werden. Auf Basis dieser Daten wird dann die Zulassung bei den Behörden beantragt. Es muss entschieden werden, ob die Wirksamkeit ausreicht, um Impfungen durchzuführen und wie eine Impfkampagne aussehen kann. Die Datenlage ist entscheidend. Gleichzeitig stellen sich die Fragen, ob genügend Impfstoff produziert werden kann und welche Bevölkerungsgruppen zuerst geimpft werden sollen.

Das klingt nicht so euphorisch, wie manche Politiker es im Frühjahr und auch vor kurzem noch angekündigt haben?

Da gab es viele Aussagen, die möglicherweise getrieben waren von Unkenntnis, dem Prinzip Hoffnung oder sogar politischem Kalkül.

Tatsache ist, dass man zunächst Impfstoffkandidaten aus der Forschung braucht, die dann in verschiedenen klinischen Studien getestet werden müssen. Dabei darf es bei Sicherheit und Verträglichkeit keine Abstriche geben. So wurde berichtet, dass Studien unterbrochen werden mussten, weil es Fragen zu möglichen Nebenwirkungen gab. Das ist aber nichts Ungewöhnliches. Die Sicherheit geht vor.

Es gibt verschiedene Impfstoffkandidaten. Welcher ist der beste?

Das weiß niemand. Es ist gut, dass mehrere Prinzipien untersucht werden. Und es wird in den nächsten Monaten viele Daten geben, die unser Wissen enorm erweitern werden. Niemand kann voraussagen, welches Prinzip sich am besten für einen Impfstoff eignet. Und deshalb ist es gut, dass mehrere Ansätze verfolgt und verglichen werden können. Es wäre schön, wenn sich alle wissenschaftlichen Hypothesen praktisch umsetzen ließen und alles wie gewünscht funktioniert.

Prinzipiell muss unser Körper dazu gebracht werden, eine Immunität gegenüber dem Virus aufzubauen und diese zu erhalten, so dass, wenn immer ein Virus auftaucht, es durch unser Immunsystem unschädlich gemacht werden kann.

Bei Corona verfolgt man drei Ansätze:

1. Genetische Information von ungefährlichen Virusproteinen (Antigene) wird verabreicht und der Körper stellt dann diese körperfremden Proteine her. Diese werden dann von unserem Immunsystem als fremd erkannt und es entwickelt eine Immunität.

2. Die genetischen Informationen von Virusproteinen wird mit Hilfe von Vektoren in einige Körperzellen gebracht, die diese dann produzieren. Das Immunsystem baut dagegen eine Immunität auf.

Das sind relativ neue Ansätze.

Beim eher konventionellen 3. Ansatz werden Virusproteine als Antigen direkt verabreicht, um eine Immunität zu erreichen.

Wenn ein wirksamer Impfstoff vorliegt, muss dieser natürlich parallel weiter untersucht werden. Fragen wie: „Wie lange besteht Impfschutz? Wie effizient ist er in der breiten Anwendung? Wie sind die langfristigen Effekte auf das Immunsystem z. B. auf die Gedächtniszellen?“ und natürlich Fragen zur Sicherheit müssen natürlich immer wieder gestellt werden. Aktuell werden weltweit um die zweihundert Impfstoffprojekte genannt, an denen gearbeitet wird. Mehrere sind in klinischen Studien.

Wie sieht es mit Medikamenten gegen das Virus aus?

Wir brauchen unbedingt Medikamente gegen das Virus. Tatsache ist aber, dass die Erforschung und Entwicklung eines neuen, hocheffizienten auf das Virus optimierten Wirkstoffes Jahre dauern wird. Das kann durchaus ein Zeitraum von 10 Jahren sein.

Es ist bisher nicht gelungen, einen Impfstoff gegen AIDS zu finden. Das AIDS-Virus wurde Anfang der 80iger Jahre entdeckt. Eine wirksame Therapie steht erst seit Mitte der 90iger Jahre zur Verfügung. Es war einer der größten Erfolge der Medizinalchemie, diese hochwirksamen Mittel zu finden. Aber es brauchte Zeit. Ebenso gelang es der Medizinalchemie, Wirkstoffe zur Heilung von Hepatitis C zu finden, für die es auch keine Impfung gibt. Wir brauchen neue Wirkstoffe, weil wir mehrere therapeutische Optionen brauchen.

Warum dauert die Entwicklung eines neuen Medikamentes so lange? Brauchen wir überhaupt eines? Reicht nicht die Impfung?

Es ist nicht möglich, einen sicheren und hochwirksamen Wirkstoff auf dem Computer zu designen. Dazu sind langjährige Forschungsarbeiten notwendig und dann schließen sich klinische Entwicklungsphasen an, um zunächst Sicherheit und Verträglichkeit festzustellen. Anschließend muss der therapeutische Nutzen gezeigt werden.

Es braucht Zeit und internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit, frei von nationaler Abschottung.

Wir haben bisher überhaupt keine gesicherten Erkenntnisse, was ein Impfstoff bei diesem Virus überhaupt leisten kann. Wir wissen noch sehr wenig über die Erkrankung selbst. Wir brauchen also verschiedene therapeutische Optionen. Denn die Menschen reagieren unterschiedlich auf das Virus. Nur so kann man der individuellen Krankheitssituation begegnen.

Aber heute gibt es doch bessere Forschungsmethoden als zu Zeiten von HIV.

Das ist in der Tat richtig. Wir verfügen heute über viel mehr Technologien wie beispielsweise die Sequenzierung von großen Genomen, die Geneditierung, aber auch der Umgang mit großen Datenmengen, die bessere Charakterisierung von Erkrankten und Risikogruppen, analytische und diagnostische Verfahren. Es steht auch außer Frage, dass man die Chancen der Digitalisierung und Methoden der künstlichen Intelligenz besser nutzen muss. Trotzdem bleibt als größte Herausforderung, einen guten biologischen Ansatzpunkt zu finden und ein geeignetes Wirkstoffmolekül zu identifizieren.

In den Medien war davon zu hören, dass sich auch bereits vorhandene Medikamente als wirkungsvoll zeigten. Wie ist hierzu Ihre Einschätzung?

Es ist wichtig, wissenschaftlich zu untersuchen, ob nicht ein bereits vorhandener Wirkstoff eingesetzt werden kann. Gleich zu Beginn der Pandemie gab es allerdings auch viele unseriöse Aussagen besonders von politischer Seite zur Verwendung von vorhandenen Medikamenten, um das Virus schnell zu besiegen. Die WHO hat in den letzten Tagen bekanntgegeben, dass eine große Studie an Tausenden von Patienten den Nutzen vieler vorgeschlagener Medikamente als fraglich erscheinen lässt.

Ein Beispiel: Eine Substanz ist Remdesivir. Es wurde ursprünglich gegen Ebola entwickelt, war aber nicht erfolgreich. Von der amerikanischen Behörde wurde im Sommer eine Notzulassung erteilt und jetzt erfolgte die reguläre Zulassung. Die Substanz hatte bei schweren Verläufen zwar keinen Effekt auf die Sterblichkeit, sollte aber den Klinikaufenthalt um wenige Tage verkürzen.

In der genannten WHO Studie wird auch der Nutzen von Remdesivir in Frage gestellt. Es ist aber wichtig, dass vorhandene Substanzen untersucht werden, wenn sie wissenschaftlich begründet positive Effekte versprechen. Dies muss auf Basis kontrollierter wissenschaftlicher Studien erfolgen. Das Krankheitsgeschehen ist so komplex, dass wahrscheinlich die Kombination verschiedener Wirkstoffe sinnvoll sein wird. So hat sich mittlerweile der begleitende Einsatz von Dexamethason, einem Abkömmling des Cortisons, bewährt.

Bisher haben wir über die Bekämpfung der Pandemie gesprochen. Aber wie sieht es beim Thema Datenerhebung aus? Man hat zuweilen den Eindruck, dass in den zurückliegenden Monaten hinsichtlich der Erhebung von Daten nach wie vor keine Fortschritte gemacht wurden. Man hört immer noch, dass an Wochenenden manche Gesundheitsämter keine Daten an das Robert-Koch-Institut übermitteln und es generell immer wieder zu Datenverzug kommt. Ist so etwas in einem digitalisierten Land bei solch einer Pandemie überhaupt zu verantworten? Hat irgendjemand in Deutschland eigentlich einen Überblick über die aktuelle Situation hinsichtlich Infizierter, Erkrankter und ursächlich an Corona Verstorbener?

Die Pandemie hat uns vor Augen geführt, dass in Deutschland erhebliche Digitalisierungspotenziale ungenutzt sind. Das betrifft alle Lebensbereiche.

Was die Pandemie anbelangt, beginnt es mit der Nachverfolgung von Infektionswegen und erstreckt sich über Krankheitsverläufe und deren Folgeerscheinungen. Das RKI selbst hat verschiedentlich Defizite in den Meldeketten beklagt.

Digitalisierung ist aber nicht nur für die Gesundheitsämter von Bedeutung. Im gesamten Gesundheitssystem geht es auch um grundlegende Datenhaltung, Dateninfrastruktur aber auch Software. Wir sind noch weit weg von der digitalen Transformation und haben großen Nachholbedarf. Analysen von Krankheitsdaten sowie internationaler Austausch und Vergleiche sind mit digitalen Instrumenten und Plattformen besser und schneller durchzuführen. Es würde enorm helfen, die großen Wissenslücken zu schließen. Das wäre sowohl für die Prävention als auch für neue Therapien und die Versorgung von allergrößtem Nutzen. Natürlich muss die Datensicherheit gewährleistet sein.

Eine nationale Strategie zum Thema Digitalisierung, die der aktuellen Situation und zukünftigen Herausforderungen gerecht wird, ist längst überfällig.

Vielen Dank für das Gespräch.

(Die Fragen stellte Markus Sommerfeld)

Auf dem Foto: Prof. Dr. Günther Wess

Foto: Markus Sommerfeld

 

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