„Hermann von Helmholtz und die Musik – wie gut, dass er Klavier gespielt hat“ – Eine Buchbesprechung mit dem Autor Prof. Dr. Günther Wess aus Erlensee

(ms/ea) – In dem Werk von Günther Wess geht es um Musik und die faszinierende Wirkung von Klängen. Ausgangspunkt sind die Forschungsarbeiten des Universalgelehrten Hermann von Helmholtz (1821-1894) auf dem Gebiet der Musik. Das Netzwerk von Helmholtz reichte auch nach Hanau.

Was hat Sie veranlasst, dieses Buch zu schreiben, das die Forschungsarbeiten von Hermann von Helmholtz zur Wirkung von Klängen in den Mittelpunkt stellt?

Ich habe mich immer wieder gefragt, warum so viele Menschen die Moderne oder Zeitgenössische Musik nicht mögen und sie sogar ablehnen. Andererseits werden für abstrakte, moderne Kunstwerke Höchstbeträge gezahlt. Dieses Phänomen hat mich interessiert. Woher kommt diese Diskrepanz in der Wertschätzung? Zufällig bin ich bei Recherchen über den amerikanischen Komponisten Charles Ives auf die Arbeiten von Hermann von Helmholtz zur Musik gestoßen. Auf Basis seiner Forschungsergebnisse habe ich eine mögliche Erklärung entwickelt, warum uns bestimmte Arten von Musik gut gefällt und andere nicht.

Wie lautet die Erklärung?

Die Erklärung hängt mit der Verarbeitung von Nervensignalen im Gehirn zusammen. Helmholtz hat die Wirkung von Klängen untersucht. Er beschäftigte sich mit dem Hörvorgang und der weiteren Verarbeitung von Nervenimpulsen im Gehirn. Zu seiner Zeit war die Moderne Musik noch nicht erfunden, seine Lieblingskomponisten waren Mozart und Beethoven. Er hat aber die Grundlagen für unser heutiges Verständnis jeder Art von Musik gelegt. Darüberhinaus hat er sich mit dem Sehvorgang beschäftigt und dem Erkennen von Farben. Helmholtz hat in jungen Jahren den Augenspiegel erfunden, mit dessen Hilfe Augenkrankheiten erstmal erkannt werden konnten, was ihm internationale Anerkennung einbrachte. Im Zusammenhang zu diesen beiden Themen enthält das Buch auch ein Kapitel zu Musik und Malerei.

Das hört sich alles kompliziert an. Ist das Buch nur für Menschen mit einem wissenschaftlichen Hintergrund verständlich?

Das Buch ist für Musikinteressierte geschrieben. Es werden keine langatmigen wissenschaftlichen Abhandlungen dargestellt. Im Mittelpunkt steht die Musik mit vielen Beispielen aus vielen Musikrichtungen. Musikinteresse und eine gewisse musikalische Bildung sind allerdings hilfreich. Es werden viele Musikstücke und Konzerterlebnisse beschrieben, mit denen ich mich als Zuhörer, Musiker oder Wissenschaftler beschäftigt habe. Von daher hat das Buch auch einige autobiographische Elemente. Es wird ein Bogen gespannt von der Klassik über die Moderne bis hin zu Rock und Jazz. Mit seinen nur 104 Seiten lässt es sich gut lesen.

Wer war Hermann von Helmholtz?

Der Universalgelehrte Herrmann von Helmholtz (1821-1894) wurde geboren, als Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) noch lebte und starb, bevor die Quantenmechanik entwickelt wurde. Er war in seiner Zeit vom Weltbild der klassischen Physik geprägt. Wenn es um seine Lebensleistung geht, wird diese heute meistens aus dem Blickwinkel der Physik betrachtet. Nächstes Jahr ist sein 200. Geburtstag. Zu diesem Anlass werden viele seiner Verdienste in der Physik, seine Beiträge zur Entwicklung der Universitäten sowie die Gründung der Physikalisch Technischen Reichsanstalt gewürdigt werden. Er galt ja nicht umsonst bereits zu seinen Lebzeiten als „Reichskanzler der Physik“ und hatte einen gewissen Kultstatus in Berlin erreicht.

Mir geht es aber in dem Buch um einen ganz anderen Aspekt: Seine Beiträge zur Musik wurden bisher zwar erwähnt, aber zu oft in ihrer Bedeutung unzureichend dargestellt. Dabei sind sie bis zum heutigen Tag unübertroffen und haben nichts von ihrer Faszination eingebüßt. Sie sind punktgenau, hochaktuell und weiterhin richtungsweisend für alle, die mit Musik zu tun haben wie z. B. Musiker, Komponisten, Dirigenten, Klangarchitekten, Akustiker, Toningenieure, Instrumentenbauer und selbstverständlich auch die Zuhörenden. Er hat seine Forschungsergebnisse zur Musik in dem über 600 Seiten umfassenden Werk „Die Lehre von den Tonempfindungen“ zusammengeschrieben.

Das Faszinierende an Helmholtz ist, dass er in seinen Arbeiten zur Musik ein sehr interdisziplinäres Thema angepackt hat und sich damit auch zwischen die Stühle starker Wissenschaftseinrichtungen gesetzt hat. Er konnte ein solches Thema nur bearbeiten, weil er selbst ein ausgezeichneter Klavierspieler war, großes Musikverständnis besaß und eine breite Bildung hatte. Er begann mit den physikalischen Grundlagen der Klänge. Dabei standen die Obertöne im Zentrum seiner Untersuchungen. Darauf aufbauend hat er sich mit den Sinneswahrnehmungen sowie Fragen der Ästhetik, Psychologie und Philosophie der Musik befasst. Über allem stand immer die Schönheit des Klangerlebnisses.

Was fasziniert Sie an der Person Hermann von Helmholtz?

Er hat Brücken zwischen Kunst und Wissenschaft gebaut. Er war Wissenschaftler und passionierter Musiker. Auf vielen Gebieten war er Autodidakt, was vom wissenschaftlichen und kulturellen Establishment immer beargwöhnt wurde. So musste er immer um Anerkennung seiner Ergebnisse in den etablierten Wissenschaftseinrichtungen kämpfen.
Helmholtz stand in der Tradition der Wissenschaft. Er war immer auf der Suche nach Neuem. Dabei bewegte sich nicht in nur einer Fachdisziplin, sondern arbeitete häufig zwischen den Fachdisziplinen. Damit eckte er oft bei etablierten Interessensgruppen an. Solche interdisziplinären Arbeiten wären im heutigen Wissenschaftsbetrieb nicht möglich. Gerade seine Arbeiten zur Kunst auf der Grundlage der Naturwissenschaften sind Leuchttürme.

Im Unterschied zu konservativen akademischen Lehrern waren für ihn Abweichungen von Regeln der Kunst selbstverständlich, wenn es darum ging, Neues und Ungewöhnliches auszudrücken. Das beeindruckte auch den Komponisten Charles Ives, einem Vertreter der amerikanischen Avantgarde. Die Schriften von Helmholtz verbreiteten sich international rasch und wurden von vielen Musikern und Gelehrten gelesen.

Helmholtz hatte auch immer die praktischen Anwendungen seiner Forschungen im Sinn. So hat er viel für den Instrumentenbau getan und maßgeblich die Entwicklung des Steinway Flügels beeinflusst. Er besuchte auch den berühmtesten Orgelbauer der damaligen Zeit, Aristide Cavaillé-Coll in Paris.

Es gibt sogar einen Bezug zu Hanau. Von dem in Hanau ansässigen Musiker und Akustiker Georg Appun bezog er Orgelpfeifen und akustische Geräte für seine Forschungen. Leider ist die Bedeutung der in Hanau wirkenden Familie Appun mittlerweile vergessen. Aus diesem Grund habe ich dazu nun Recherchen begonnen.

Was ist seine Bedeutung heute, welche Erkenntnisse sind noch aktuell?

Seine Erkenntnisse sind weiter aktuell und richtungsweisend und fordern zur Weiterentwicklung auf. Obwohl er durch die Klassik geprägt war, gab es für ihn keine Festlegung auf Gattungen, Stile oder Kulturen. Seine Arbeiten sind universell und gelten für jede Art von Klängen. Für ihn stand der prägende Einfluss des sozialen und gesellschaftlichen Umfeldes auf das individuelle Verhältnis zur Musik und den Musikgeschmack außer Frage. Schon in frühester Kindheit, ja sogar schon vor der Geburt, entwickeln sich die Vorlieben und Hörgewohnheiten. Immer wieder hat er aber auch die musikalische Bildung und die Schulung des Gehörs hervorgehoben. Man müsse lernen zu hören.

Aus seinen Arbeiten wird auch ein ganz anderer Aspekt deutlich: Live-Konzerte sind durch nichts zu ersetzen. Nur so kommt man auf das volle Musikerlebnis. Aber auch Stille hielt er für sehr wichtig, um sich wieder zu konzentrieren. Ganz im Gegensatz zu dem, was uns die Musikindustrie heute vorsetzt mit ihrer Dauerberieselung durch Playlisten und Streamingdienste. Problematisch ist auch der extrem starke und oft zu laute Musikkonsum durch Ohrhörer.

Darüberhinaus lag Helmholtz viel daran, durch populärwissenschaftliche Vorträge und Schriften die Ergebnisse seiner Forschungsarbeiten einer breiten Öffentlichkeit zu erklären.

Sie sind Wissenschaftler und Musiker. Wurden Sie jetzt durch die Corona Pandemie doppelt gefordert?

Ja, das trifft zu. Ich habe kürzlich an zwei großen Studien zur Corona Pandemie mitgearbeitet, zum einen zusammen mit 13 weiteren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und dem ifo Institut und zum anderen im Zukunftsrat der Bayerischen Wirtschaft zum Thema „Resilienz“.

Die Fertigstellung des Manuskriptes für dieses Buch erfolgte im April 2020 und fiel damit in die weltweite „Corona-Krise“. Während dieser Zeit konnten bis auf weiteres keine Livekonzerte mehr mit Publikum stattfinden, wie man es bisher gewohnt war. Die Auswirkungen auf den gesamten Kulturbetrieb sind dramatisch. Es stellen sich Fragen über Fragen. Die Zeit des Lockdowns habe ich zum Anlass genommen, das Orchesterstück „The Unanswered Question“ des amerikanischen Avantgardisten Charles Ives, welches er 1906 für 4 Streicher, 4 Flöten und 1 Trompete geschrieben hat, erstmals für Orgel und Klavier zu transkribieren. Zusammen mit meinem Sohn Johannes haben wir es zu Hause eingespielt. Es kann auf ⇒YouTube angehört werden.

Vielen Dank für das Gespräch

(Die Fragen stellte Markus Sommerfeld)

Auf dem Foto: Prof. Dr. Günther Wess

Foto: Markus Sommerfeld

Bezogen werden kann das Buch „Helmholtz und die Musik“ u. a. bei Bücher bei Dausien in Hanau, Salzstraße 18.

Über den Autor:

Prof. Dr. Günther Wess ist Naturwissenschaftler und Amateurmusiker mit einer Ausbildung in Kirchenmusik im Fach Orgel. Seine naturwissenschaftliche akademische Ausbildung hat er an der Goethe-Universität Frankfurt und der Harvard University erhalten. Nach der Habilitation an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz wurde er als Honorarprofessor an die Goethe-Universität Frankfurt berufen und später an die Technische Universität München. Er hat 23 Jahre in leitender Position an der Erforschung und Entwicklung neuer Arzneimittel in Pharmaindustrie gearbeitet. Danach war er 12 Jahre Wissenschaftlicher Leiter und CEO des Helmholtz Zentrums München. Sein Interesse in der Musik reicht von klassischer Musik über die Moderne bis zu Rock und Jazz und schließt auch musikwissenschaftliche Fragestellungen ein.

Günther Wess ist Mitglied der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften und Träger des Bayerischen Verdienstordens.

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